2010 und 2013 hatten einige Trainingskollegen und ich das Glück unseren Meister Chen Shi Hong ins Ursprungsland des Taijiquan zu begleiten. Im Folgenden sollen ein paar exemplarische Eindrücke die Vielfalt von China wiedergeben.

Meine Annahme, dass mit dem Wechsel von einer Millionenstadt wie Wien in die chinesischen Städte, für die Wien die Dimension eines mittleren Vorortes darstellt, das Empfinden der Hektik proportional mit der Einwohnerzahl steigen würde, wurde rasch entkräftet. Ganz das Gegenteil war der Fall!

Verkehr in China

Der Verkehr spiegelt bspw. sehr passend die Mentalität der Chinesen wieder. Die Spuren auf den Autobahnen galten, zumindest damals, als gut gemeinter Vorschlag. In der Mittelspur wälzte sich beschaulich eine Schlange mit entspannten Chauffeuren dahin, während auf einem daneben liegenden Fahrstreifen – ganz egal ob links oder rechts davon – einige Fahrer mit wahnwitzigem Tempo an der Blechansammlung vorbeirasten, nur um sich dann einige hundert Meter weiter ganz gemächlich wieder in den Stau einzugliedern. Eine hupende, quietschende oder im Fahrgastinneren aufgebracht schimpfende Geräuschkulisse – Fehlanzeige! Wollte man eine Reaktion auf die teilweise waghalsigen Überholmanöver erhaschen, konnte man ganz entspannte, fast teilnahmslose Mienen statt vor Zorn entstellter Autofahrerfratzen erkennen.

Ein anderes Mal waren wir in Zhu Hai um 10 Uhr nachts mit dem Auto unterwegs. Wir standen an der Kreuzung, die Ampel schaltete auf Grün, aber an eine Weiterfahrt war nicht zu denken. Vor uns querten, beinahe gleichzeitig, ein Reisebus, ein PKW sowie mittendrin ein Drahteselreiter. Und keine Anzeichen von Stress!

Öffis in China

Ebenso bietet China eine ganz andere „Offi-Mentalität“ als man sie zuhause gewohnt ist. Man kommt den Metro-Abgang herunter und sieht vor sich die U-Bahn kurz vor der Abfahrt. Während in Wien einige in Stuntman-Manier durch die schließenden Türen hechten, wobei es zumal vorkommen kann, dass nur 90% des Körpers das Wageninnere erreichen, weil der rechte Schuh eingeklemmt in der Tür eine Frischluftkur erfährt, sehen Chinesen dem gelangweilt dem nächsten eintreffenden Zug entgegen. Wir kennen alle das Bild – in die Jahre gekommene Herren werden urplötzlich zu Topsprintern, die in wahnwitzigem Tempo die Rolltreppe hinunterhetzen, um sich dann in die ohnehin übervolle U-Bahngarnitur zwängen zu können. In Beijing war davon weit und breit keine Spur. Und vor den allseits gefürchteten Seathuntern, gebrechlichen Damen, die mit präziser Zielsicherheit unbarmherzig und unnatürlich leichtfüßig die letzten Plätze in öffentlichen Verkehrsmitteln ansteuern, muß man sich auch nicht in Acht nehmen.

Alles geht entspannt seinen Weg. Man bekommt einen tiefgreifenden Eindruck, was die mitteleuropäische Seele in Yoga-, Qigong- oder Taijikursen sucht und vielleicht viel einfacher mit einem geänderten „Standpunkt“, also einem korrigiertem Blickwinkel auf den Alltagswahnsinn erreichen könnte.